Wenn man wirklich etwas will

Von Oktober 1979, ein paar Wochen nach dem Sieg des Sandinistischen Aufstandes in Nicaragua, bis Ende März 1980 arbeitete ich in einem medizinischen Entwicklungshilfeprojektes in der Atlantikregion dieses Landes. Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, prägten mein politisches und medizinisches Verständnis nachhaltig. Hier einige Aufzeichnungen aus dieser Zeit.
Claudio will mich sprechen. Gleich nach der Visite. „Wenn du Zeit hast, komm in mein Zimmer“, meint er. Natürlich habe ich Zeit. Dr. Claudio Weber ist immerhin mein aktueller Oberarzt. „Möchtest du nach Nicaragua mitkommen?“, fragt er mich, kaum in seinem Zimmer angekommen. „Wenn die Sandinisten gewonnen haben, geht es gleich los. Ich werde die österreichische Ärztegruppe leiten. Ich kann mir ein oder zwei Kollegen selber aussuchen. Und da dachte ich an dich. Du kannst es dir ein paar Tage überlegen. Noch ist etwas Zeit. Aber mir wäre doch recht, es schon bald zu wissen. Es gibt viel vorzubereiten.“

Nach Nicaragua. Mein Gott. Ich bin weder esoterisch, noch ein Anhänger psychologischer Kalendersprüche. Deswegen stehe ich solchen Aussagen wie, „man muss etwas nur wirklich wollen, dann wird es auch in Erfüllung gehen“, grundsätzlich skeptisch gegenüber. Erstens: Was ist schon „wirklich“? Und überhaupt, wenn sich so ein Wunsch dann doch nicht erfüllen sollte und wer kann schon wissen, dann heißt es gleich, man habe eben doch nicht wirklich gewollt. Man sei eben selber schuld, heißt es dann oft. So einfach ist das mit solchen Sätzen. Aber diesmal scheint es, habe ich ganz offensichtlich wirklich richtig gewollt. „Ja ich will Claudio.“ Sage ich also prompt und ohne lang nachzudenken.

Vor circa vier Monaten hatte ich erfahren, dass der Arbeitskreis „Kritische Medizin“, dem ich lange angehörte, ein Projekt in Honduras, in den Flüchtlingslagern an der Grenze zu Nicaragua, betreibt. Zur medizinischen Versorgung der von den Kämpfen geflohenen Zivilbevölkerung und der verwundeten Sandinistischen Rebellen, die es über die Grenze nach Honduras geschafft hatten. Genau das wäre es gewesen. Genau deswegen habe ich doch Medizin studiert. Albert Schweizer, Lambarene. Das war es, was uns bewegte. Ich rufe also sofort bei einem verantwortlichen Mitarbeiter der kritischen Medizin an und bekunde mein großes Interesse. Er bedauert sehr. „Weißt du, wie viele Kollegen da schon mitmachen wollen. So viele Flüchtlingslager gibt es nicht einmal, die man betreuen könnte. Wir nehmen nur mehr Kollegen, die von Anfang an an der Ausarbeitung dieses Projektes mitgearbeitet haben. Keine Trittbrettfahrer“ Pech. Dann also nicht. Schade. Und jetzt kommt Claudio und fragt mich. „Weißt du, es gibt an sich viele Ärzte, die da mitmachen wollen, aber wie gesagt, ich habe als Leiter des neuen Projektes ein gewisses Vorschlagsrecht. Wir sollen nach dem Sieg der Sandinisten in der Atlantikregion ein Regionalspital aufbauen. Mit dir habe ich jetzt ein halbes Jahr lang auf der Station zusammengearbeitet, ich kenne dich gut, deine fachlichen Qualitäten, auch deine Teamfähigkeit, deswegen würde ich mich freuen, wenn du mitkämst.“

So ist das also mit dem echten, ganz tief von Innen kommenden Wollen. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, ich habe nichts dafür getan, ich habe nur auf der Station von Claudio gearbeitet. Und das noch, ohne zu wissen, dass er der Projektleiter der nächsten Ärztegruppe sein wird. Ehrlich. Ich war diesbezüglich völlig ahnungslos. Ich habe also was Nicaragua betrifft, völlig zufällig auf Claudios Station gearbeitet. Engagiert schon, verlässlich auch, so wie es meine Art ist. Aber sonst zufällig. Deswegen kann ich reinen Herzens sagen, ich habe zwar gewollt, aber sonst war alles zufällig. Außer es gibt doch so etwas, wie eine höhere Fügung, aber da kenne ich mich nicht so gut dabei aus. Ich versichere Claudio also, dass ich sehr gerne mitmachen würde.
„Und was ist mit deiner Psychotherapieausbildung, die du gerade machst?“
„Mein Gott, die werde ich eben unterbrechen.“ Sage ich. „ Da wird es, hoffe ich doch, noch andere Gelegenheiten geben, so eine Ausbildung fortzusetzen.“
„Gut Hans es freut mich sehr, dass du so klar bist. Es gibt noch viel bei den Vorbereitungen zu tun, und wenn du mitkommen möchtest, dann bist du ab nun in diese Arbeiten eingebunden. Und das war ich denn auch.

Erst hat sich Nikaragua in einem blutigen Bürgerkrieg von einem der grausamsten Diktatoren Lateinamerikas namens Somoza befreit, und jetzt werde ich mich hoffentlich auch befreien. Von diesem ganzen moralisch ethischen Druck, den man so hat, wenn man als Holocaustnachkomme der zweiten Generation, Sohn eines allseits geachteten und geschätzten antifaschistischen Kämpfers, auf diese Welt kommt. Immerhin mache ich, neben meiner Arbeit im Spital, schon zwei Jahre Psychotherapieausbildung, so dass ich mich jetzt schon ein bisschen auskenne bei mir. Ich freue mich einfach auf eine Bewährungsprobe, auf etwas Eigenes, und diese Freude übertönt alles. Auch die Angst und die Unsicherheit, was uns alles in Nikaragua erwarten wird. Die Kämpfe sind beendet und die Sandinisten am 19. Juli im Triumph in Managua einmarschiert. Wie es allerdings in den fernen Provinzen ausschaut, ist völlig ungewiss und Spanisch kann ich noch immer nichts. Wir sollen angeblich nach La Esperanza, einem kleinen Dorf in der Region Costa Atlantika, kommen, direkt dorthin, wo die einzige Straße Nikaraguas, die von der Hauptstadt Richtung Atlantikküste führt, den Fluss Rio Escondido überquert. Das Dorf liegt direkt neben der großen Brücke. Es gibt überhaupt keine durchgehende Straße bis an die Atlantikküste. Unsere, die caretera este, endet nämlich nicht weit von unserem Dorf direkt am Fluss. In Rama. Von dort aus fahren dann ein paar Dampfer weiter Richtung Küste. Von Rama bis zur großen Flussmündung. Dort liegt dann Bluefields. Die einzige nennenswerte Karibikstadt. Soweit unsere geographische Einschulung. Aber wie es in La Esperanza ausschaut, dort, wo wir wohnen und arbeiten werden, ob die Revolution schon bis dorthin gelangt ist, und ob es dort noch Kämpfe gibt, weiß kein Mensch. Wenigstens keiner in Österreich. Unsere Informationen sind sehr vage. Was wir aber sicher wissen ist, dass es im Moment keine Flüge nach Nikaragua gibt. Was tun? Hin schwimmen geht nicht, wir haben mehr als 600 Kg Gepäck. Hauptsächlich Medikamente, die wir in den letzten Monaten gesammelt und sortiert haben und diverses medizinisches Gerät. Also doch fliegen. Aber wie?! Und wohin?

Wo internationale Solidarität geschätzt wird

Ankunft in Havanna nach zirka 16 Stunden Flugzeit um 22 Uhr Ortszeit, geschlaucht und angespannt. Längst hat man jedes Zeitgefühl verloren. Wie spät es wohl jetzt in Wien sein mag? Wie lang wir schon unterwegs sind? Wie es nun weitergehen wird? Fragen aber keine Antworten. Zu müde zum Nachdenken. Werden wir am Flughafen überhaupt erwartet? Oder müssen wir gleich direkt zur österreichischen Botschaft fahren. Vielleicht sollten wir lieber erst in ein Hotel gehen und uns ausschlafen. Genau ausschlafen das wäre es. Aber was passiert mit den ganzen Kisten? 600 kg mit ins Hotel nehmen. Bitte, wer kann jetzt noch klar denken und entscheiden? Ist, Gott sei Dank, gar nicht notwendig. Wir werden erwartet. Eine ältere Dame strebt auf uns zu, in schlichter Kleidung, keine Uniform, keine Dekoration. Sie stellt sich als österreichische Botschafterin vor und begrüßt uns herzlich. Ministerialrat Dr. L. vom Außenamt habe sie angerufen, sie solle sich um einen Transit nach Nikaragua kümmern. Für uns und unsere Medizinische Staff. Sie meint, dass auch ein Responsable (Vertreter) des Kubanischen Zentralkomitees kommen sollte. Sie hoffe sehr, dass es klappt. Schön langsam beginne ich, mich zu fragen, warum nicht Fidel Castro persönlich erscheint, um uns zu begrüßen. Man kann echt größenwahnsinnig werden, bei soviel Prominenz und gleichzeitigem Schlafentzug. Der Resposable eilt herbei. Jung, sportlich und mit einem Scheitel. Die Frau Botschafter stellt uns vor. Er begrüßt uns freundlich, dann schildert Claudio ihm genau unser Anliegen. Der junge Responsable wiegt, leicht irritiert wirkend, den Kopf, dann geht er telefonieren. Als er wieder kommt, schaut er plötzlich viel freundlicher, wie zu Beginn unserer Begegnung. Eigentlich enthusiastisch. Er sei höchst erfreut uns mitteilen zu dürfen, dass die Kubanische Regierung unseren Beitrag zur internationalen Solidarität gerne unterstützen möchte. Wir sind eingeladen, mit dem nächsten Flug nach Managua mitzufliegen. Mit unserem ganzen medizinischen Equipment selbstverständlich. Der Flug wird höchstwahrscheinlich in den frühen Morgenstunden also um zirka sechs Uhr losgehen. Wir sollten uns deswegen am Flughafen bereithalten. Wir werden rechtzeitig verständigt, wann es soweit ist. Zu Erfrischungen sind wir natürlich auch herzlich eingeladen.
In meiner Studentenzeit auf den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg haben wir nebst „Ami raus aus Vietnam“ vor allem „Hoch…. die… internationale Solidarität“ skandiert. Speziell in den engen Häuserschluchten der Wiener Innenstadt klang das immer sehr beeindruckend. Als wir jetzt mit freundlicher Einladung des Kubanischen Zentralkomitees bei einer sozialistischen Hamburgesa und einem noch sozialistischerem Cola sitzen, summt es in meinem Herzen, so wie damals: „Hoch die internationale Solidarität“

Junge Companeros:
Der Flieger, eine alte russische Propellermaschine mit russischer Besatzung, ist voll besetzt mit fröhlichen, jungen Sandinisten. Mädchen und Burschen nicht älter als 18, 19 Jahre. Alle in Uniform. Wir, voll ungewisser Spannung, diese, voll erwartungsvoller Freude. Alle am Rückflug in die befreite Heimat. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Kuba. Claudio erklärt uns, dass Kubanische Ärzte weltbekannt für ihre Behandlungsmethoden von Kriegstraumen seien. Die jungen Menschen hier im Flieger sind alle versehrt. Mit Krücken, Prothesen sitzen sie auf ihren Plätzen, einige auch im Rollstuhl, schwatzen, lachen, freuen sich auf ihre Rückkunft nach Nikaragua. Ich fühle mich ziemlich befangen, Erinnerungen an meinen Vater werden wach, auch er kriegsversehrt ein Leben lang. Obwohl ich natürlich wusste, dass er noch sehr jung war, als ihm die Granate einer SS Batterie die Hüfte zerschmetterte, in meiner kleinkindlichen Wahrnehmung war er immer schon alt. Jetzt bin ich mit jungen Invaliden konfrontiert: acht, neun Jahre jünger als ich, so alt wie seinerzeit mein Vater war.

Erste Erschütterung meines Wertesystems
Der Flieger landet kräftig rumpelnd auf einer staubigen Piste. Wir klettern eine rostige Treppe hinab, jeder sein schweres Gepäck mit sich schleppend. Das Flugzeug steht weit im Gelände, eine Art Gebäude ist in zirka 150 bis 200 Metern auszumachen. Plötzlich sind wir von Kindern umringt, Jungs, die aufgeregt auf uns einreden. Senior, Senior verstehe ich, den Rest nicht. Aber die Gebärden sind eindeutig. Ein Junge hat sich ganz nahe an mich herangedrängt und will mir meinen Koffer abnehmen. Er ist maximal elf, zwölf Jahre alt, klein und schmächtig. Er hat sich die Poleposition erkämpft und schaut mich erwartungsvoll an. Senior, Senior versucht er es nochmals und greift nach meinen Koffer.

„Ich mir von Kindern den Koffer tragen lassen. Aber wirklich nicht! Ich der weiße Massa lässt sich nicht von kleinen Jungs den schweren Koffer tragen. Wo sind wir denn? Hat es hier nicht eben eine Revolution gegeben? Ich unterstütze doch nicht Kinderarbeit!!“ Ich widerstehe allen Versuchen des Jungen, mir meinen Koffer abzunehmen. Ich kann dem Land und der Revolution stolz ins Auge blicken. „Ich, ihr junge Nikaraguaner, ich gebe euch eure Würde wieder, ich trage meinen Koffer selber!“

Freundlich lächelnd in moralisch einwandfreier Haltung, schleppe ich mir meinen Koffer selber Richtung Abfertigungsgebäude. Der Junge ruft mir etwas nach. Laut und wie mir scheint im Tonfall etwas unfreundlich. Ich schaue Claudio fragend an. Der meint nur trocken, „das, was er dich geschimpft hat übersetze ich dir nicht, aber du hast ihn um seinen ganzen Tagesverdienst gebracht. Und den braucht er wahrscheinlich dringend.“
So ist das mit der Political Correctness. Aus der Ferne schaut immer alles einfacher aus.

Copyright Dr. Johann Lauber 2011